Ringbuch
Kajujak die Flüsterinsel
Man braucht nicht glauben, dass es auf der Flüsterinsel leise ist. Manchmal geht es dort richtig laut zu. Dann hört man Jazzkonzerte in voller Lautstärke über die gesamte Insel schallen, oder Glockengeläut von mehreren Kirchtürmen gleichzeitig, die so laut läuten, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht.
Meistens ist ruhig auf der Insel. Man hört das Rauschen der Blätter im Wind, Vogelgezwitscher und ein leises Plätschern von Wasser. Die Insel ist nicht groß. Sie ist sogar ‹so› klein, dass wenn man an einem Ende etwas flüstert, kann man es am entgegengesetzten Rand der Insel noch verstehen. Natürlich nur wenn es ganz still ist. Das ist nicht der Grund für den Namen der Insel. Ihr Bewohner ist Kaju der Trauringflüsterer und diese Insel ist seine Flüsterinsel, auf der er die Paare empfängt.
Auf der Flüsterinsel gibt es eine kleine Hütte, einen Baum, einen Leuchtturm und einen Anleger. Das eingeschossige Holzhaus hat eine umlaufende Veranda. Eine Schmiedeesse befindet sich seitlich am Haus. Neben dem Schaukelstuhl steht eine große Staffelei. Rechts davon ein niedriger Tisch, zwei Sessel und zwei Holzschemel. Die Tür ist niemals abgeschlossen und beherbergt einen einzigen Raum. Der rotweiße Leuchtturm am nordöstlichen Ende ist gerade so hoch, dass sein Leuchtfeuer über den Giebel des Hauses leuchtet. Links neben dem Haus steht ein japanischer Perlschnurbaum ‹Styphnolobium japonicum›. Er gehört zu der Untergruppe der Schmetterlingsblütler und ist mit seinem schlanken Geäst für seine gewaltige Blattkrone relativ niedrig.

Kaju in seinem Schaukelstuhl
Dennoch ruht auf seiner mächtigen Astgabelung ein hübsch bunt angemaltes Baumhaus mit Holztreppe. Der solide Bootsanleger definiert das entgegengesetzte Ende der Insel. Der Anlegesteg ist mit einem Giebeldach überdeckt. Jedem Gast soll der Aufenthalt so angenehm wie möglich sein. «Wenn er denn hierher findet», denkt Kaju in seinem Schaukelstuhl. Der Goldbold hat die Augen geschlossen und sinniert in diesem Augenblick darüber nach, wer wohl die nächsten Besucher sein werden.
So hell der Leuchtturm nachts auch strahlen mag, so herrlich bunt die Insel im blauen Tageslicht auch leuchtet, so sehr die maigrüne Blattkrone sich schillernd wiegt im goldensonnigen Wind, so herrlich die sandrote Erde zu dem azurblau der unendlichen Weite ringsum auch kontrastiert, so laut es dort ab und an auch zugehen mag, man findet diese Insel nicht. «Nicht so leicht», korrigiert Kaju den Erzähler. Kaju schlägt die Augen auf und beginnt nun selbst zu erzählen.
«Kajujak, die Flüsterinsel ist meine unendliche Geschichte. Auf keiner Landkarte ist sie verzeichnet. Keine Schiffsroute führt dort hin. Sie ist mit keinem Koordinatensystem eindeutig zu bestimmen, denn diese Insel ist überall. Es ist eine fliegende Insel. Selbst wenn sie heute noch im indischen Ozean liegt, zum Beispiel am grünen Felsenrand oberhalb eines der sagenhaften Wasserbecken von Mauritius, genau dort, wo gegenüber ein schlanker Wasserfall malerisch in die Tiefe gleitet, kann sie schon morgen mitten in den Alpen sein. Vielleicht wartet sie im Rosengartenmassiv auf das nächste Paar und thront auf den sechs Vajolet-Türmen. Die Insel war schon im Himalaya auf dem Parang La Pass. Dort war die Heimat, sowohl für die Gämse, als auch für den Adler. » Kaju unterbricht.
Na, sind Sie neugierig wie es weitergeht?